
In alter Zeit gab es in jedem Dorf eine
sogenannte Totenfrau. Sie wurde bei einem
Sterbefall von den Angehörigen gerufen,
und sie übernahm alle die Arbeiten und
Erledigungen, die mit dem Tode eines
Menschen bis hin zu einem würdevollen
Begräbnis notwendig wurden, um so den
Angehörigen in ihren schmerzlichen
Stunden zur Seite zu stehen. In der
Densberger Spinnstube erzählte man sich
in den früheren Jahren die Geschichte
über solch eine Totenfrau; der
Überlieferung nach soll sich folgendes
zugetragen haben:
In einem der Kellerwalddörfer gab es
einen Gutshof. Eines Tages fuhren die
Gutsbesitzer mit der Kutsche zum
Einkaufen nach Treysa. Sie wollten auch
noch Verwandte besuchen, die nahe an
ihrem Wege wohnten. Und so war es
schon recht spät geworden, als sich die
Reisenden auf den Heimweg machten.
Die Uhr vom nahen Dorfkirchlein schlug
gerade Mitternacht, als sie die Brücke
über den Treysbach erreichten.
Doch, was sahen sie da? - Da saß doch tatsächlich
die Totenfrau aus ihrem Dorfe auf dem Geländer
der Steinbrücke. Jeder im Umkreis kannte sie.
Was mochte sie wohl zu nächtlicher Stunde
gerade hier an der Brücke wollen?
Der Mann hielt die Pferde an und rief: „He, Lene,
was ist mit dir?" - Doch die Totenfrau gab keine
Antwort. „Ist dir nicht gut, und sollen wir dich
mit nach Hause nehmen?" Aber die Frau rührte
sich nicht und gab keine Antwort. Das kam dem
Ehepaar sehr sonderbar vor, und es beschloß,
sogleich im Dorfe am Häuschen der Totenfrau
vorbeizufahren, um festzustellen, was da wohl
nicht stimmen mochte. Sie hielten also vor dem
Häuschen der Totenfrau Lene an und klopften an
die Haustür.
Nach einer Weile öffnete der Ehemann und
sah die späten Besucher fragend an.
„ Wilhelm, was ist mit deiner Frau los?"
fragten sie.
Noch ehe sie etwas über die sonderbare
Begegnung auf der Brücke über den
Treysbach erklären konnten, sagte Wilhelm:
Was soll denn mit meiner Frau sein? Sie liegt
oben im Bett und schläft."
»Das kann nicht gut sein. Als wir vorhin
mit der Kutsche über die Steinbrücke
gefahren sind, saß deine Frau auf der
Brückenmauer!"
„,Ach, woher denn! Lene ist in der
Schlafkammer und schläft schon eine ganze
Weile!" - So mußte sich das Gutsbesitzerpaar
zufriedengeben.
Sinnend über dieses Ereignis fuhren sie nach
Hause.
Einige Tage später sollte der Sohn des
Gutsbesitzers bei eben jenen Verwandten,
die seine Eltern auf ihrer Einkaufsfahrt
aufgesucht hatten, einen prächtigen Bullen
verkaufen. Der junge Bauernsohn erzielte
für das Tier ein schönes Stück Geld.
Wohlgemut und froh über den guten
Handel machte er sich gegen Abend auf
den Heimweg. Als er an die alte
Steinbrücke kam, die über den Treysbach
führt, überfielen ihn plötzlich zwei
Männer, raubten ihm sein Geld und
schlugen ihn tot. Am nächsten Tag fand
man seine Leiche. Das Verbrechen
geschah zur selben Stunde und an der
gleichen Stelle, an der vor Tagen seine
Eltern die Totenfrau auf der
Brücke sitzen sahen.